Zwei Augenblicke in SüdostEuropa (II): Zum Wochenend in Czernowitz

Endlich in Stadt voller Bücher und Menschen

Der Germanist Joachim Müller in Jena bot im Herbst 1960 eine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten an mit dem Thema „Ausgewählte Lyrik des 20. Jahrhunderts“. Ich kannte ihn nicht. Erst 1963 wurde seine verständnisvolle Interpretation expressionistischer Dichtung öffentlich in der Presse angegriffen. 2006 wurde bekannt, daß er sich auf Anfrage brieflich zu seinen Verstrickungen in der NS-Zeit bekannte. So schlau waren die Studierenden damals nicht, als sie sich am späten Nachmittag des 14.10. 1960 zur ersten Vorlesung in einem kleinen Hörsaal des Hauptgebäudes der Universität Jena trafen. Aus dem überschaubaren Kreis erinnere ich mich u.a. an die Theologen Waldemar Schewe aus dem Eichsfeld und Karl-Heinrich Bieritz aus dem damals kirchlich noch immer hessischen Schmalkalden. Von den Mathematikern war zumindest Gerhard Maess präsent,nach 1989 erster frei gewählter Rektor der Rostocker Universität, ein Mann der Orientierung in Zeiten schöner Ideale und peinsamer Irrtümer. Joachim Müller begann mit einer Einfühlung in die lyrische Sprache. Dann lasen wir auf hektographierten Blättern die TODESFUGE von Paul Celan, und wir hörten von Czernowitz, wo nach den Worten seines berühmtesten Dichters Menschen und Bücher lebten, wir hörten von Deportationen und KZs in der Bukowina. Die Frage wurde gestellt, ob Celan mit seinem Gedicht die These widerlege, nach Auschwitz sei keine Dichtung mehr möglich. Kurzum: Seitdem hat mich das Gedicht, seine Geschichte, die seines Verfassers und vön dessen Stadt nicht losgelassen. Ich wußte, niemals würde ich nach Czernowitz kommen, soviel ich auch darüber läse.

Und nun fuhren wir am 30.8. 2012 mit dem Auto von unserem rumänischen Standquartier in Siebenbürgen aus die 500 km nach Czernowitz kurz hinter der ukrainischen Grenze. Diese ist umgeben von viel Strenge und dennoch auch südöstlicher Lockerheit. Auch dem,der sich von der Schönheit Siebenbürgens hat betören lassen, bieten sich auf der Strecke in den Waldkarpaten entzückende Siedlungen mit stets einfachen und dabei wunderschönen Holzhäusern dar. Die Städte Targu Mures/Neumarkt und Cluj/Klausenburg zeigen sich dem Durchreisenden in beeindruckender Lebendigkeit, vor der sogar das schöne Sibiu/Hermannstadt doch etwas zurücktritt.

Nach der 12stündigen Anfahrt über Serpentinen und nicht immer standardisierten Pisten (Durchschnitt 49 km/h) übernachten wir im Hotel „Bukowina“ von Czernowitz, vor allem am rechten Ufer des Flusses Pruth gelegen.Am nächsten Morgen treffen wir Tetyana Berezhna (www.tet-ukraine.cv.ua). Die studierte Germanistin vereint die Biografien ihrer Mutter aus Czernowitz und ihres Vaters aus Sewastopol.Diese ukrainisch-russische Perspektive erleichtert eventuell den Blick über die Extreme von Nationalismen hinaus. Wir beginnen die Stadtführung um 11.00 Uhr am Denkmal von Paul Celan und kehren gegen 17.00 Uhr in unser Hotel zurück. Der PKW brachte uns zwischendurch zu den Hauptstätten einer solchen Führung. Frau Berezhna erzählt uns von der allmählichen Wiedergewinnung Celans durch seine Heimatstadt, die er nicht einfach eine Metropole nannte, sondern einen Meridian, umfassender noch als der lobesame Name „Klein-Wien des Ostens“. „Meridian Czernowitz“ heißt auch das internationale Poeten-Fest, das am ersten Septemberwochenende stattfindet – 2012 zum dritten Mal: ein jugendlicher Indian Summer der Poesie inmitten von viel sozialer und politischer Banalität in Alltagsprosa ( www.meridiancz.com/de/) . Übrigens gab es während der Stadtführung nirgends Postkarten, aber Gedichte von Rose Ausländer und Paul Celan, eingebracht von Frau Berezhna. Diese Namen stehen für eine ungewöhnliche Fülle von Autorinnen und Autoren, die es alle nach Czernowitz gezogen hatte, der vielsprachigen Stadt.

Die Shapiro-Synagoge ist eines von zwei jüdischen Bethäusern. Wir verweilen hier in der Geschichte der 50.000 Juden,die aus Czernowitz deportiert und ermordet wurden. Sie sprachen gern deutsch und waren zu k.u.k. Zeiten ehrlichen Herzens „superkaisertreu“ (T.B.) . Einen Gegensatz zur deutschen Kultur konnten sie sich nicht vorstellen. Zu den Opfern gehört auch die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger. Ihr letztes Gedicht könne sie nicht vollenden, schreibt sie im rumänischen Arbeitslager Michailowka (Transnistrien) mit Rotstift unter den Torso: „Ich habe keine Zeit gehabt (…)“.Die Stadtkennerin informiert uns halblaut, und in etwas schwächerer Lautstärke hören wir Rabbiner Noah Kofmansky auf der Galerie mit ihren geöffneten Fenstern im Gespräch mit Ratsuchenden. T.B. bringt ihm noch ein Kuvert mit der Aufschrift „Rabbi“ samt Spende von einer vorherigen Führung. Am Abend reden wir über unser gemeinsames Erlebnis und schaffen nicht, der Einladung zur Sabbatfeier in die zweite, chassidische Synagoge zu folgen. Aber das Jüdische Museum im einstigen Jüdischen Haus besuchen wir am nächsten Tag und freuen uns über die Ausstellung und ihre freundliche Präsentation durch Vertreter der Synagoge.Unterwegs immer wieder einmal laut liturgische Gesänge aus ukrainisch-orthodoxen Kirchen.

Auf dem Alten Jüdischen Friedhof sind Generationen von orthodoxen und liberalen, assimilierten und säkularisierten Juden vereint. Die Ratlosigkeit im Umgang mit den Riten (oder ihre Überwindung ?) demonstriert ungewollt eine junge Dame, die sich beim Anzünden einer Kerze in einem Grabmal ukrainisch-orthodox bekreuzigt. Überrascht stehen wir schließlich an den Gräbern von Rosa Zuckermann und Mathias Zwilling, die in den 90er Jahren in den Dokumentarfilmen von Volker Koepp aus einer versunkenen Epoche zu uns sprachen (1999: Herr Zwilling und Frau Zuckermann; 2003/4: Dieses Jahr in Czernowitz – Koepps Sprung ins Präsens). Wir besuchen das Geburtshaus von Rose Ausländer – um die Ecke das von Itzik Manger. Das angebliche Elternhaus von Paul Celan brilliert in frischer Farbe mit passenden Hinweisen, zeigt aber nur einen reparablen Irrtum; denn Familie Celan wohnte nebenan im Souterrain, und nun fehlt das Geld für eine weitere Renovierung, aber ein realer Eindruck von damals wie heute nicht einfachen Verhältnissen bleibt. Stadt und Region sind in den vergangenen hundert Jahren zwischen Österreich-Ungarn, Rumänien, der Sowjetunion, Nazideutschland hin- und hergerissen worden. Jetzt ist Czernowitz eine Stadt in der Ukraine.Die tschechischen Trolleybusse aus den sechziger Jahren und jüngerer Zeit wirken wie eine verspätete Gabe der k.u.k. Monarchie an ihre frühere Provinz. Wer in einem langen Leben mehrere Staatswechsel mitmachen mußte, gewinnt gewiß keinen Zuwachs an Vertrauen in staatliche Institutionen. Immerhin scheint es in der heutigen Ukraine politische Alternativen zu geben. Das ist anders als im benachbarten Rumänien, wo ein politischer Kapitalismus herrscht, in dem sich alle Parteien bemühen, Staat und Gesellschaft je für sich profitabel zu verwirtschaften. Nichtsdestotrotz fordert der Filmemacher Ligor Strembitzki für seine ukrainische Heimat stärkeres zivilgesellschaftliches Engagement:“Die Leute wissen alles über den Präsidenten und die Regierung, aber nichts über ihre Familie. Die Leute wissen nicht, wann ihre Mutter Geburtstag hat, und sie haben keine Ahnung, wie es in der Schule der Kinder aussieht. Man soll nicht dauern über Politik reden, sondern lieber den Zaun streichen.“ Die Stadt hatte nach offiziellen Angaben vom Jahre 2005 242.300 Einwohner. Unsere Stadtführerin nennt eine Bevölkerungszahl unter der von Rostock; denn viele Einwohner leben im Ausland, zumindestens arbeiten sie dort.

Am 1.9. ist Einschulung und feierlicher Unterrichtbeginn für alle Klassen. Schwarzer Anzug oder Hose mit Weste – die Jungen ; die Mädchen auch schwarzweiß mit zwei blütenförmigen Rüschen im Haar.Sie bestimmen mit Eltern und Geschwister das Czernowitzer Straßenbild . Woher kommen sie nur alle? Wo stecken sie schließlich nach dem Vorbeimarsch? Als wir zu Mittag essen wollen,entdecken wir sie in einem SB-Gaststättenkomplex erheblichen Ausmaßes: Die Kleinen feiern in Familie, die Größeren mit Zigarette oder Freundin. Der 1.September war im Osten ein staatlich geförderter Weltfriedenstag. Wenn dieses Datum auch aus ideologischen Gründen verdrängt wurde, mich läßt diese Erinnerung den Jungen wie den Alten wünschen: Shalom.Pax. Frieden. Paix.Peace.Mir. Wie zerbrechlich das Zusammenleben ist, wird mir bewußt, als ich mich einmal verspreche und Celans Stadt „Tschernobyl“ nenne – ein paar hundert Kilometer von hier entfernt. „Im Pruth schwimmen / die nackten Erinnerungen“ (R. Ausländer).

Eine quirlige Stadt voller Leben, für uns Erstbesucher mindestens eine Metropole und vielleicht doch ein Meridian Natürlich wissen wir nach unseren 3 Tage nur scheinbar Bescheid. „Alles ist ungefähr,/Was man fix benennt,/Alle Gefühle,/Die man ahnt und kennt“, schreibt der siebenbürgische Dichter Georg Hoprich, in dessen Heimat wir bald zurück fahren werden. Nach mehr Aufenthalt und Erfahrung wird das Wissen bekanntlich komplizierter. Immerhin lesen wir Plakate, die zum Protest gegen Präsident Janukowitsch aufrufen. Wir sehen auffällig viele Jugendliche. Gefühltes Durchschnittsalter in der Stadt: 23 Jahre, flachst einer von uns. Hat die Landflucht die jungen Menschen hierher gebracht? Vor den neunziger Jahren gab es Arbeit in Fabriken für Luftfahrt- und Weltraumtechnik. Mit dem Zerfall der Sowjetunion verfielen auch die Aufträge und die Fabriken.Heute existieren 29 Märkte ungewöhnlicher Ausmaße (für uns). Hier wird verkauft und erworben, was aus Ländern weiter östlich und südlich durch clevere Aufkäufer und Zwischenhändler herangeholt werden kann.

Was heute „Hauptstraße“ heißt, war früher die „Siebenbürgische Straße“. Die sind wir gekommen, und wir fahren auf ihr direkt nach Hause in Rumänien, in freilich durch reichlich Serpentinen und Schluchten abgeschwächter Direktheit. Die Jüngeren von uns werden vermutlich nochmals zurück kehren. Für mich war es endlich die Begegnung mit Celans Meridian und, so Gott will, die einzige. „Sei deinen Abschieden voraus,“ heißt ein Gedicht von Rose Ausländer.

Schnellere Leute werden womöglich aus Deutschland nach Temeschwar im rumänischen Banat fliegen und von dort eine Maschine direkt nach Czernowitz buchen.

Jens Langer, Rostock

 

Lesempfehlung:

  • Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina. Zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber, München 2009
  • Europa erlesen: Czernowitz,Hgg. von P.Rychlo, Klagenfurt/Celovec 2004
  • Günter Zamp Kelp u.a. (Hgg.), Czernowitz Tomorrow. Architektur und Identität im Aufbruch Ostmitteleuropas,, Düsseldorf 2007
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