Rumänien anders: Ein „Unruheständler“ in Siebenbürgen

Bild: Bianca Bogdan
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An Zukunftsvisionen denke er selten, meint Ilarion Bârsan. Der fast 70-jährige mit den wachen Augen sagt das am Ende unseres langen Gespräches über das Harbachtal, seine Heimatregion. Seine Biographie beginnt, wo der Harbach entspringt, bei Retiș (Retersdorf) weit im Nordosten des Tals. Hier sitzen wir mit Blick über die für das Harbachtal prägenden, bisweilen endlos wirkenden Schafweiden. Ilarion Bârsan ist ein Beispiel dafür, wie die Bevölkerung nach tragfähigen Lösungen für ihre Region sucht.

Das Harbachtal (Rumänisch: Valea Hârtibaciului) erstreckt sich im Herzen Rumänien über mehr als hundert Kilometer durch ein weitläufiges Hochland. Es ist den südlichen Karpaten vorgelagert. Oberhalb des Dorfes, wo wir auf dem orthodoxen Friedhof stehen, können wir diese heute nur ahnen. Es ist eine Landschaft, wie sie nur selten in Europa zu finden ist. Jahrhundertelang war sie Siedlungsgebiet von Siebenbürger Sachsen, Rumänen, Ungarn, Roma und anderen. Für die Zukunft müsse rumänisches und sächsisches Erbe erhalten und in einen multikulturellen Kontext gestellt werden, sagt Bârsan. Ist das ein Hinweis auf die oft ignorierte Roma-Bevölkerung des Tals, ohne die so ein Kontext nicht denkbar ist? Ihm ginge es um Entwicklung regionaler Identität, sagt er: „Um Wirtschaftsentwicklung müssen sich andere kümmern.“ Er lacht und seine Augen spiegeln eine gewisse Ironie. Bârsan sieht sich als einen sozialen Aktivisten und das offiziöse Gerede von Prosperität regt ihn auf: „Wir müssen auf den Dörfern wieder lernen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen!“ Das ist nicht nur Gerede: Eigentlich schon Rentner, ist er Vorsitzender eines regionalen Entwicklungsvereins, der Fördergelder aus einem EU-Programm für das Tal mit seinen fast fünfzig Dörfern verwaltet. Das Geld hat man bisher vor allem für kleine Landwirtschaften bereitzuhalten verstanden.

Während unseres Gesprächs gehen wir die Dorfgassen entlang. Bârsan kann zu jedem Haus mit mindestens einer Geschichte aufwarten. Als wir einmal länger stehen bleiben, kommt eine alte Frau aus ihrem Hof gehumpelt. Als sie Bârsan erkennt, müssen wir uns auf ihre Bank vorm Haus setzen. Bârsan verfällt jetzt in den lokalen Singsang der rumänischen Sprache. Wir werden reichlich mit Brot und Schafskäse versorgt. Schafhaltung ist prägend für die Landwirtschaft. Das war schon so, als Bârsan zur Welt kam. Retersdorf gehörte damals noch nicht einmal eine Generation zu Rumänien: Am Ende des Ersten Weltkriegs verlief die Front in Sichtweite des Dorfes und der Großvater kämpfte für die österreichische Armee. „Lăruț“, wie viele unseren Mann nennen, ist mit diesen Brüchen aufgewachsen, sie haben ihn immer begleitet. Dazu gehört der Umgang mit den Roma. Das sei ein soziales, kein ethnisches Problem, meint er, gesteht aber auch ein, dass die Gräben sehr tief sind: „Ich bin damit groß geworden, nicht mit den țigani zu spielen. Das ist viele Generationen alt. Gut, wenn andere das anders angehen.”

Landwirtschaft wird im Harbachtal überwiegend zur eigenen Ernährung und meist auf kleinsten Flächen betrieben. Die vor wenigen Jahren noch prägenden Dorfherden mit Rindern, Wasserbüffeln, Pferden, Ziegen sind mancherorts verschwunden, in den meisten kleiner geworden. Bârsan sieht auch positive Ansätze: „Ich frage mich, wie in zwanzig Jahren die Landwirtschaft in den Dörfern aussehen wird, wo heute die cortorari (Anm.: traditionelle Roma) größere Flächen gemeinsam bewirtschaften.“ Das seien Entwicklungen abseits des Rampenlichts und fernab gewohnter Klischees. Die Mehrheitsbevölkerung sei für kollektive Arbeitsweisen aber nicht zu haben. Nicht nur die Zwangskollektivierung und Enteignung blockiere solche Ansätze. Oft liegt die Landwirtschaft am Boden, weil die Bevölkerung überaltert ist, die Arbeitsmigration nach Westeuropa trägt ihr Übriges dazu bei. Lösungen von oben sind nicht zu erwarten: „Die Politik hält sich aus den gesellschaftlichen Problemen raus.“

Wie alle jungen Männer muss auch er nach der Schule zum obligatorischen Wehrdienst. Das ist der Schritt hinaus aus seinem Dorf. Die Retersdorfer waren, so erzählt er, eine besonders verschworene Dorfgemeinschaft. Das entlegene Dorf gehörte zu keinem der Richterstühle – mangels solcher juristischer Zuständigkeiten ließen sich hier Menschen der verschiedenen Ethnien nieder, die anderswo nicht geduldet wurden. Ein spannendes Gemisch, das sich noch heute in einem spezifischen Ortsdialekt mit Entlehnungen selbst aus dem Englischen erahnen lässt. Nach der Armeezeit arbeitet er als Dreher in einer Fabrik. Dort wird er Mitglied der Kommunistischen Partei; das verschweigt er nicht. Aufschlussreich seine Motivation: Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Warschauer-Pakt-Truppen 1968 ruft in Rumänien besondere Reaktionen hervor. Angst vor „den Russen“ und Nationalismus treffen zusammen – Staats- und Parteichef Ceaușescu spricht sich gegen den Einmarsch aus. Zusätzlich werden sogenannte ‚Patriotische Garden‘ gebildet. Bedingung: Parteibuch. Als Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee die Runde machen, schriebt sich Bârsan in die ihm ansonsten suspekte KP ein.

Wenige Jahre später landet er wieder im Harbachtal. In Agnita (Agnetheln) arbeitet er zuerst als Dreher. Anschließend leitet er den örtlichen Jugendklubs, wo er seine Frau kennen lernt. Darauf folgt eine Zeit in der örtlichen Schuhfabrik. Hier ist Bârsan für die Festlegung von Arbeitsnormen zuständig. Er hält es in dem Staatsbetrieb nicht lange aus und wechselt – offiziell als Buchhalter – zum Agrarkollektiv (CAP) des Nachbardorfes Chirpăr (Kirchberg): „Wäre ich geblieben, wäre ich verblödet. Auf dem CAP haben wir bis zu zehn Stunden am Tag gearbeitet, waren auf den Feldern und in den Ställen – das hat mich erfüllt!“ Die Schuhfabrik gibt es noch heute, jetzt als kleines Exportunternehmen in italienischer Hand. Das CAP aber wird nach der Wende Stück für Stück aufgelöst: aus Sicht von Bârsan mutet das wie ein Treppenwitz der Geschichte an. Dabei hätte es, so meint er, gerade nach 1990 besser werden können. Es gab keine gefälschten Erntezahlen mehr, keine Order aus Bukarest zum Einsäen vor der Zeit: „Wir haben als Kinder schon gelernt, dass Mais erst nach der Schlehdorn-Blüte gesät wird. Beim CAP kriegten wir den Befehl von oben zu säen, wenn es an der Donau losging: fast einen Monat zu früh.“ Realitätsferner Dirigismus war damals ein Problem und ist es auch heute, meint Bârsan.

Nach 1990 verfällt das Tal in Depression: Ein Drittel der Bevölkerung – zumeist deutschsprachig – ist fort, die Agrargenossenschaften sind aufgelöst. Bezahlte Arbeit gibt es kaum. Bis zur Rente 2004 arbeitet Bârsan für einen Verbund verbliebener staatlicher Agrarbetriebe. Die werden aufgelöst, „obwohl es ganz gut lief.“ Viel Land liegt seither brach. Erst im Vorfeld des EU-Beitritts kommt wieder Bewegung ins Spiel: „Da gab es Hoffnung auf Fördermittel und Armutsbekämpfung. Natürlich auch auf europaweite Bewegungsfreiheit und darauf, dass wir alle wie in Deutschland leben könnten.“ Bârsan schüttelt den Kopf und lacht. Vielleicht ist die Möglichkeit zur Arbeitsmigration die einzige wahr gewordene Hoffnung. Wirtschaftliche Gründe sind seiner Meinung nach dafür zweitrangig: „Die Leute gehen doch nicht bloß wegen des Geldes fort. Sie wollen so leben, wie sie es für sich entscheiden. Und das ist immer noch ein großes Problem in Rumänien!“ Er kennt das aus der eigenen Familie. Von drei Kindern arbeitet eine Tochter in Tschechien, der Sohn in Deutschland. Die älteste Tochter lebt zwar in der Landeshauptstadt, kam aber zurück aus Deutschland hierher.

Bild: Bianca Bogdan
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Die Rente ist für Bârsan keine Zäsur, lediglich eine andere Einkommensform. Er ist ein Un-Ruheständler – leider gibt es im Rumänischen kein dementsprechendes Wortspiel. „Ich wollte immer mitgestalten, nicht an der Seite stehen“, sagt er und wird bei den letzten Worten etwas lauter. Das hat er wirklich getan – Heimpflegedienst, Umweltschutz, Freiwilligenservice, Gratiszeitung. Sein Tatendrang hat auch zur Entstehung der Transilvanian Brunches geführt. Diese finden seit 2008 von April bis September monatlich in einem anderen Dorf statt. Sie bringen Menschen aufs Land und dies den Gästen näher. „Eine wunderbare Sache, wo ich keinerlei Verantwortung trage!“ sagt er augenzwinkernd. Zahllose Gäste finden in den warmen Monaten dazu den Weg in bisweilen schwer erreichbare Orte. Natürlich gehörte auch Retersdorf schon dazu. Hier, wo wir nun wieder an der orthodoxen Kirche stehen, haben sie ihr Dorf gefeiert. Der Pope wurde damals gebeten, die Messe in der früheren evangelischen Kirche weiter unten im Dorf zu halten; für den rumänisch-orthodoxen Bârsan mehr als praktische Ökumene, eher Sensibilität gegenüber Anders- oder auch Nichtgläubigen. Er wünscht sich, dass mehr Menschen von der Region erfahren und sich hier auch nieder lassen.

Wollte er denn nie fortgehen wie so viele andere? Nein, meint er nach kurzem Schweigen: „Ich habe hier immer zu tun gehabt.“ Dann kommt er noch einmal auf die Kinder zu sprechen. „Sie sind alle so weit weg. Ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren.“ Ilarion Bârsan sieht sich vor seinem Tun daher als Egoisten im positiven Sinne. Mit Visionen hat das sicher wenig zu tun, sicherlich aber viel mit Retersdorf und dem Harbachtal, kurz vor den Karpaten.

Der Beitrag erschien im März in der Wiener Zeitung AUGUSTIN sowie im Sommer in den Rostocker STADTGESPRÄCHEN.

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