Transsilvanien braucht viel Auferstehung (von Jens Langer)

Nach der vierten europäischen Grenze suchen wir – der schwarzweiße Münsterländer-Mischling Linus, eine dunkelblonde Kandidatin der Politik- und Sportwissenschaft und ein grauer Prediger – im rumänischen Arad eine Tankstelle, bei der die Aufkleber für die Straßenbenutzung gekauft werden können. Ein Mann in einem stabilen Landrover mit württembergischen Kennzeichen fragt nach Woher und Wohin. Er stammt aus einer deutschen Familie in Kasachstan. Und hat anscheinend Glück gehabt in der neuen Heimat. Wir einigen uns schnell über Bürokratie in Deutschland, den ungewöhnlichen Fahrstil in Rumänien, über Freiräume und den Sinn von persönlichem Einsatz.

Europäische Heimatkunde

Bald bin ich bei dem Klassiker unseres Freundes Thomas, der nach Deutschland ausgewandert war und nach einigen Jahren in seine siebenbürgisches Dorf zurückkehrte. Auf die Frage von zwei durchreisenden Studentinnen aus Mittweida, wie sich Deutschland und Siebenbürgen seinen Erfahrungen nach unterscheide, antwortete er: „In Deutschland ist es bequem, hier ist es schön.“ „Oder kennen sie kein Heimweh?“ , frage ich den Russlanddeutschen. „Ich habe immer Heimweh“, entgegnet der Mittdreißiger, ein Kerl wie Samt und Seide und erfolgreich dazu. „Deswegen fahre ich so oft wie möglich nach Moldawien: Das ist wie Kasachstan.“ Nun verstehe ich auch unsere Mamaie Ioana Voiculescu besser. Fast achtzig, lebt sie seit 1990 in Schweden, bekommt alle paar Wochen Blut übertragen, lässt sich zu ihren Enkeln in Siebenbürgen fahren und sagt nach der ersten Transfusion in Rumänien, noch dreihundert Kilometer von ihrer Heimat am Rande Bukarests entfernt: „Ich könnte sofort wieder hier bleiben.“

Überraschungen auf deutsch, ungarisch und rumänisch

Ostern wird 2005 zu einer Bewegung, die auch in unsere Biografien eingreift, und zwar schon Wochen vorher. Am Sonntag 14 Tage vor Ostern – Lätare, Klein-Ostern, „Freut Euch“ – wird der Gottesdienst im Dorf deutsch und ungarisch gefeiert. Ein ungarischer Vikar unterstützt den Ortspastor. Vor dem Segen gibt der Pfarrer bekannt, dass am nächsten Sonntag – nach einem Jahr Überlegungen – 5 Ungarinnen und Ungarn in die Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien aufgenommen werden. Der älteste Mann meldet nach dem Segen Bedenken an: „Das gibt im August Händel, wenn die Ausgewanderten zu Besuch und Urlaub herkommen. Die verstehen kein Ungarisch und wollen es nicht.“ Ihm wird die Gemeinschaft der reformatorischen Kirchen im Sinne der Leuenberger Konkordie erklärt. „Außerdem sind die Urlauber Gäste. Die Gemeinde vor Ort bestimmt ihre Entwicklung selbst.“
Am Sonntag darauf war die Aufnahme ein Ereignis, das alle mitnimmt und erwärmt in der frostigen Kirche, weil Zuwendung und Zukunft geschehen für leibhaftige Menschen in einer leibhaften Kirche. Ein Ungar überreicht eine neue deutsche Altarbibel als Geschenk an die Gemeinde und redet den Pfarrer nach alter Art deutsch an: „Vater, ein Geschenk für uns.“ (Wenn es eigentlich „von uns“ heißen sollte, war es ein geistgeladener Versprecher.) Eine der Ungarinnen ist Konditorin, und es gibt in ihrem Haus köstliche Dinge wie aus einer Wiener Confiserie. Ein Fest. Das Evangelium läuft auf Menschen zu, und die laufen nicht weg. Die Gemeinde ist mitgekommen und in ihr der Älteste von allen, der seinen Einspruch angemeldet hatte und nun mitfeiert. Für diese Kirche, die von den meisten nach 800 Jahren in Richtung Deutschland und Österreich verlassen worden ist, kommen Neuanfänge gerade recht. Sollte man meinen. Aber es bleibt im Einzelnen schwer, nationale und kirchliche Tradition mit der Offenheit für Gottes Gegenwart in einem gelassenen Beginnen zu verbinden. In eine neue Geschichte können leicht die Ausläufer alter Geschichten von Individuen und Ethnien hineinragen. Aber nur in einem offenen Miteinander könnte sich Zukunft entfalten. Wo das verhindert wird, verbinden sich Aufbrüche mit der Passion.

Am Abend vor Palmsonntag nehme ich in Hermannstadt/Sibiu an der Konfirmandenvorstellung teil. Mit Weisheit und Lebenserfahrung führt ein Kollege in der großen Sakristei der Pfarrkirche das Gespräch mit den Konfirmanden. Von den etwa 120 Personen melden sich 15 auf die Frage, wer kein Deutsch verstehe. Der Konfirmator gleitet zwischen den beiden Sprachen Deutsch und Rumänisch hin und her. Wie unbefangen sprechen diese 14jährigen die großen Hoffnungen aus! Auf die Frage im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld: „Wohin ist das Wort Gottes bei dir gefallen, Robert? Was meinst du?“, erwidert der junge Mann: „Auf guten Boden, hoffe ich.“
Am Tage der Konfirmation feiern bei 300 Personen den Gottesdienst mit 23 jungen Leuten (bei 1700 Gemeindeglieder). Die Familien der rumänischen Konfirmanden sind stark vertreten, etwa ein Drittel der Singenden und Betenden. Sechs- bis siebenjährige Mädchen sehe ich in der alten sächsischen Tracht. Das wirkt nicht wie Folklore, sondern als Kenntnis und Akzeptanz einer präsenten Tradition.

In der Karwoche liest Axel Azzola aus seinem Buch „Jüdische und andere Geschichten von der Schöpfung bis zum Gegenwart“. Ich bin dem Juristen und ehemaligen Staatssekretär im Sozialministerium von Mecklenburg-Vorpommern im Rostocker Synagogenbauverein begegnet, kenne sein Temperament und bin also nicht überrascht wie vehement er seine Kritik vorbringt am Verhalten der Evangelischen Kirche in Siebenbürgen gegen die jüdischen Nachbarn.

Er dankt Kilian Dörr für dessen Gesprächsleitung: „Dieser Glücksfall für Hermannstadt, der junge Stadtpfarrer!“ Den loben sie alle noch einmal zu Ende. Mich hat der Geschätzte eingeladen, die Predigt am Gründonnerstag zu halten und bei der Ostermette eine Aufgabe zu übernehmen. Zuerst aber feiere ich das Heilige Abendmahl am Tage seiner Einsetzung im Dorf. 15 junge Sängerinnen und Sänger aus der Nachbarschaft verschönen den sowieso besonderen Gottesdienst, der für dieses Dorf noch einmal zusätzlich außerordentlichen Charakter trägt. Die Gemeinde bestand nach der Auswanderung von 90% der Deutschen aus 6 Personen. Jetzt lassen fünf junge Menschen, die Neuaufgenommenen, ihre Gemeinschaft mit Gott und Menschen durch das Sakrament besiegeln. Wir sind über 30 Personen. Statistisch geht das eigentlich gar nicht. Aber immer wieder gibt es Gäste, Durchreisende, Besucher, wandernde Handwerksgesellen, die hier Rast machen. Das gastfreundliche Dorf ist vielen in Europa bekannt, und die Kirche gehört dazu. Die statistische Überraschung ist für mich die biblische Brotvermehrung auf siebenbürgisch. Jedenfalls ist im Laufe der Jahre aus dem kirchlichen Betreuungspunkt eine aktive Gemeinde geworden, stellt der Ortspastor fest. Die funktionierende Turmuhr, das Projekt, die alte Mühle denkmalgerecht zu sanieren, sprechen dafür. Mit dieser Zuversicht fahre ich nach Hermanstadt zurück. Ich kleide mich um und gehe am Abend im Ornat durch die Straße an der rumänisch orthodoxen Kathedrale vorbei, wo es mit Ostern noch ein paar Wochen dauert. Die reformierte Kirche, in der auch die transsilvanischen Unitarier Gottesdienst feiern, liegt wenige hundert Meter weiter. Bevor ich das Gelände der Stadtpfarrkirche neben dem Brukenthal-Gymnasium betrete, liegt etwas abseits davon am Markt die römisch-katholische Kirche.
Der großen Gemeinde am Gründonnertag erzähle ich vor dem Abendmahlsgang von meiner jüngsten Erfahrung, vom Miteinander der deutschen und ungarischen Sprache am Nachmittag, wie mir schon Rumänen und Deutsche in der Stadtpfarrkirche vertraut sind. „Gott, der sich Kinder seines Volks aus Steinen erwecken kann, hat noch andere Möglichkeiten vorher und ruft Menschen aus allen Völkern in diese Evangelische Kirche in Rumänien/Transsilvanien/Siebenbürgen, die schwer geprüft ist und gerade so an Gottes Zukunft teil hat.“

Am Karfreitag sind die offenen Geschäfte aller Art ungewohnt. Bei uns mussten eines unerwarteten Jahres an diesem besonderen Freitag auch die Karussells und Buden auf dem Ostermarkt schließen. In meiner profanisierten Region! Die Rostocker Schausteller hielten mich damals für den Schuldigen an ihrem Verdienstausfall und versuchten, mich für sich und ihre Anliegen zu gewinnen. Das gelang ihnen auch, wir haben manches Mal Nachtgebet und Nachtmahl miteinander gehalten, aber es war das Feiertagsgesetz der Landesregierung, das den Schutz der Feiertagsruhe festlegte, und ich fand den Respekt zum Totengedenken angemessen, aber es war nicht die Kirche am städtischen Markt, die wegen der Unruhe interveniert hatte. Sie hatte schon ganz anderen Lärm durchgestanden. Ein junger Vater kam damals zur Mittagzeit in die stille Kirche und erklärte, er wolle nur einmal den Saustall sehen, der Schuld daran trage, dass seine Kinder heute nicht Karussell fahren dürften. An diesem Karfreitag in Rumänien gibt es solche Ausfälle nicht. Die ungewohnte Geschäftigkeit zeigt aber, dass heute keine staatliche geschützter Feiertag ist. In Südosteuropa gehen nicht nur die Uhren anders, sondern auch die Tage und Wochen verlaufen nach dem orthodoxen Kalender. Evangelische und Katholiken feiern den Karfreitag rund einen Monat früher.

In der Stadtpfarrkirche wird der Große Freitag mit Gebeten und Segen begangen. Zwischen den Lesungen der Kapitel 18 und 19 des Johannesevangeliums singt die große nachdenkliche Gemeinde die schweren Passions-Choräle, Gebete, keine Predigt. Etwa so, wie zu Hause die Sterbestunde Jesu am Nachmittag begangen wird.

Still und dunkel ist es auch zu Ostern in der Sakristei: „Im Dunkel unserer Nacht entzünde ein Feuer, das nie mehr verlischt!“ Im Wechselgespräch, das in Anlehnung an die jüdische Passahliturgie nach dem Besonderen dieser Stunde fragt, gibt es einen spontanen Zusatz: „Warum wachsen gerade in dieser Nacht die Fragen des Warum und machen uns einsam?“ Ich versuche aus dem Stehgreif zu antworten: „Alle unsere Fragen würdigen das ungeheure Ereignis der Auferstehung Christi. Denn die besiegten Kräfte des Todes finden sich mit ihrer Niederlage nicht ab, und so sind wir mitten im Kampf!“ Das Evangelium, die brennenden Kerzen und das Heilige Mahl veranschaulichen Gottes Gegenwart und Zukunft auf ganz verschiedene Weise und doch gemeinsam.

Die meisten gehen mit hinüber in den Kapitelsaal des Pfarrhauses am Huetplatz. Dort ist die Tafel reichlich gedeckt mit dem, was mitgebracht wurde von denen, die etwas mitbringen können. Es kommen ebenso Menschen, die das nicht können und einfach Hunger haben. Ich sitze neben einer jungen Siebenbürgerin, die an der Hochschule für Musik und Theater in Rostrock studiert.

Und Ostern geht in Alzen, 30 km von Hermannstadt/Sibiu entfernt, weiter! Dort kommen auf dem Kirchhof unerwartet viele Menschen aus den drei zugehörigen Dörfern zusammen. Es ist nicht wie in alten Zeiten. Es ist eine andere Zeit mit ihren Früchten. Es ist Ostern 2005 in Siebenbürgen. 20 Kinder sind mit ihrer Lehrerin gekommen, die ihnen Herz und Mühe geschenkt hat. Ein Bläsernonett aus Breidenfeld bei Ratzeburg spielt schwungvoll und gekonnt. Nach dem Gottesdienst ziehen fast 100 Personen den Kirchberg hinunter. Am Fuße desselben hält die Lehrerin, auch Älteste und Kuratorin, eine ungewöhnliche Rede. Sie erinnert an die Weggegangenen und die Verbundenheit mit ihnen. Ostern beflügelt sie zu Worten der begründeten Hoffnung: Die drei Dörfer im Harbachtal sind auf dem Wege, zusammen wieder eine unübersehbare Gemeinde zu werden. Selbstbewusst wird vom Ortspastor hinzugefügt: „Wir sind hier, und wer dazugehören will, soll kommen.“ Ich frage meinen Nachbarn, ob nicht für einige anwesende Rumänen übersetzt werden könne. „Übersetzt wird nicht, sollen die Deutsch lernen,“ sagt er zu mir. An der Festtafel im Pfarrhaus sind dann alle wieder versammelt ohne Sprachprobleme. Mein alter Nachbar ist von dem überraschenden Ostergeschehen überwältigt. Er denkt an das in unserem Dorf geplante Treffen zu Christi Himmelfahrt und die Gottesdienste der jüngsten Zeit: „Was wir in unserem Dorf haben, wird noch öfter sein, aber Ostern in Alzen war einmalig.“ Er nimmt später in einigen Gottesdiensten nach dem Segen das Wort zum Dank an den Prediger, wie es in alten Zeiten vielleicht sogar üblich war. Bis jetzt hatte ich es noch niemals erlebt. Der Mann ist alt, hat vieles untergehen und viele weggehen sehen, und nun bewegt sich etwas in seiner Gegenwart. Er ist dabei und spürt es, und solange er das spürt, ist er gegenwärtig und nicht allein Anwalt des Gewesenen. Sie alle wissen die Gemeinschaft der Feste zu schätzen. Unser ehrenamtlicher Organist, dieses in der 3. Generation seiner Familie und Bauer im Nebenerwerb, freut sich schon auf Christi Himmelfahrt: „Das war schön – und der Umzug mit der Blaskapelle durchs Dorf am 1. Mai!“ „Aber das ist doch ein staatlicher Feiertag gewesen …“ Seine Antwort bringt es auf den Punkt: „Staat oder mit der Kirche – es war eben ein Fest fürs ganze Dorf.“

Anfang April nehmen Karoline und ich an einem Schweigemarsch für die im Irak entführten rumänischen Journalisten teil. Der Redakteur einer Zeitung, erklärt mir, dass fast alle der 70 Teilnehmer zum Freundeskreis und zur Kollegenschaft von Sorin Miscoci gehören, dem Journalisten, der aus Sibiu/Hermannstadt stammt. Mit schließlich 150 Personen ziehen wir zum Wohnblock von Sorin und beten in der orthodoxen Liturgie vor einer Kirche mit.

Statistisch gesehen, wirkt unsere religiöse Frequenz derzeit übertrieben, insbesondere dann, wenn man das Klischee vom Protestantismus mit seinem Privatglauben zugrundelegt, der keinen etwas angehen soll und deswegen u. U. auch gar nicht bemerkt wird. Gewiss aktivieren wir, was zu unsere Biografie gehört. Von der hiesigen Praxis aus betrachtet, gemessen an Substanz und wechselseitiger Ermutigung ist es aber ebenso selbstverständlich, dass wir an den verschiedenen Weisen der Liturgie im Dorf, auf der Straße und in der Sakristei teilnehmen. Freundschaft und Zeitgenossenschaft zeigen sich lebendig: Ihr seid präsent und wir wollen da sein, wo ihr seid.

Die Kirchen und ihre dunklen Geschwister

An der rumänisch-orthodoxen Kathedrale läuft an gewöhnlichen Sonntagen die barfüßige Bettlerin umher. Sie ist auf Barmherzigkeit angewiesen. Sie wehrt sich aber auch anders, wenn es um die Existenz geht. Vor ein paar Tagen lieferten sie und ihre Brüder sich eine handfeste Auseinandersetzung mit einem Mittdreißiger, der das Mädchen mehrfach mit der Faust schlug. Die Jungen hauten ihn mit einem erheblichen Knüppel. Unter dem Gelächter der auf der Heltauer Gasse flanierenden Familien zog er sich schließlich zurück. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung feuerte die Barfüßlerin auf ihren Verfolger einen roten Apfel, um den es vielleicht sogar ging. Nach einer halben Stunde saß die junge Frau mit ihren Brüdern entspannt bei einer Zigarette im Park. Düpiert und unheilvoll wartete der gewalttätige Mann in Sichtweite.

Geschrei und bedrohliche Auseinandersetzungen wirken mehr tragisch und auch komisch als peinlich. Die zur Schau gestellte Gewalt scheint mir manchmal, als solle sie bis in den Exzess getrieben werden, wirkt dann aber auch ebenso inszeniert und insofern gebremst: Ich sah einmal Sense und Knüppel zwischen zwei Clans brachial geschwungen, aber jedes Mal fast kunstvoll vor der eigentlichen Gefahrenzone für den Angegriffenen gestoppt. Das wilde Spiel mit der Sense mag schonend für alle ritualisiert sein, hält so aber auch gewalttätige Energie zurück, die sich jenseits der roten Grenzlinie entladen kann.

Das ungelöste soziale Problem explodierte im Frühjahr 2004 in der Slowakei, als dort im Interesse der EU Sozialleistungen gekürzt wurden und die Roma mit einer einzigen Lösung Kaufhallen stürmten: „Hunger!“ Den Rückweg an den Kassen vorbei kämpften sie sich mit einem Lebensmittel als eigentümlicher Waffe frei – mit gefrostetem Fisch. Der Staat hatte keine Lösung, nur Polizei und setzte diese in einem Maße ein, das nur von der Stärke der Einsatzkräfte im Jahre 1989 beim europäischen politischen Erdbeben übertroffen wurde.

Die Beschränkung der Reisefreiheit für die ersten Reisenden Europas durch die EU im Namen der Freiheit ist paradox und zerstört die Freiheit.

Anders Eginald Schlattner, siebenbürgischer Gefängnispastor und europäischer Schriftsteller: Er lädt ein Dutzend der kleinen Roma in seine Kalesche mit zwei Braunen davor und fährt mit ihnen und Gästen aus Deutschland zusammen durchs Dorf. Die Kinder verehren ihren großzügigen Gönner, und er sagt: „Besser so, als das sie mit Steinen nach uns werfen.“ Jetzt fährt er gemeinsam mit uns auf der asphaltierten Straße durch Rosia/Rothberg und widerlegt, was er das „rumänische Klischee“ nennt, „die Straße“: „Straßenkinder, Straßenhunde, Straßendiebe“. Gegen dieses Vorurteil gearbeitet haben auch die Roma vom Clan der Kupferschmiede, die das reich verzierte Dach des künftigen Rathauses von Sibiu/Hermannstadt wie neu schufen. So tat es schon einer aus ihrem Volk in der Slowakei am Petriturm in Rostock, und jetzt gestalteten sie die Flächen und Kunstfiguren des Prachtbaus am Großen Ring der Kulturhauptstadt Europas 2007. Wer wird es dann noch wissen?

Die Roma, hier „Rrom“, bleiben ein Problem der Gesellschaft, und diese ist ein Problem der Roma. Am Eingang unseres Dorfes befindet sich die Ziganie, anderswo am Rande. Was so fein ethnisch sortiert zu sein scheint, stellt in Wirklichkeit ein soziales und kulturelles Phänomen dar. Wer weit genug aufgestiegen ist, lebt nicht mehr in der Ziganie der Städte oder Dörfer. Wer seinen Abstieg nicht aufhalten konnte, findet sich dort wieder, auch wenn er Rumäne anderer Nationalität ist. Die Kirchen haben zwar auch Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe, am meisten die orthodoxe, aber der Einsatz für sie ist allenthalben so begrenzt, dass die Baptisten erheblichen Zulauf erhalten, weil diese ihnen persönliche Zuwendung schenken.

Wo liegt Seligstadt?

Der Weg nach Selistat/Seligstadt erscheint romantisch, wenn man ihn nicht fahren muss. Das Dorf von wenigen hundert Seelen ist einzig und allein über eine Kreisstraße vom Nachbarort Bekokten zu erreichen. Gut, dass ich vor vierzig Jahren den Landweg nach Siemitz und die Abzweigung nach Bredentin in Mecklenburg intensiv mit dem Krad kennengelernt habe! Wir fahren an einem Vorwerk mit leeren und verfallenen Gebäuden vorbei. Noch können wir nicht wissen, dass die einen wichtigen Schauplatz in Schlattners neuem Roman „Das Klavier im Nebel“ abgeben.
Der Gästehaus-Komplex der Evangelischen Kirche mit Pfarrhaus, Schule und Saal wirkt hier, wo viele schöne Gehöfte verlassen und verfallen sind, wie ein Signal aus einer anderen Welt, nicht pompös, aber professionell saniert, mit kleinen Ecken und Kanten. Mehrere Jahre ist mit EU-Mitteln gebaut worden, und Jugendgruppen finden hier ein Zuhause. Das können wir von dem Hauswart erfahren. Er ist Adventist und bittet, die Kirche nicht am Sonnabend zeigen zu müssen. Seine Frau und er kommen aus den Fogarascher Bergen, wo sie bei den Eltern lebten, landlosen Hirten. „Dieses Dorf hier“, sagt die Frau, „ist für uns ein Segen Gottes. Wir haben einen eigenen Hof, und mein Mann hat bezahlte Arbeit auf dem Pfarrgelände.“ Wir befinden uns auf dem erneuerten Gelände und können im Dorf den brutalen Verfall nicht übersehen. Und für sie ist es wirklich Seligstadt. Wo liegt Seligstadt? Schwer zu erreichen. Man muss es entdecken und wollen.

In der verwunschenen Landschaft bei Fogarasch leben wir mit Geschwistern und Kindern, Enkel und Großvater in drei Generationen für ein verlängertes Wochenende in diesem Jugend- und Begegnungszentrum. Die Generationen finden Zeit füreinander. Wir wandern über die Hänge, lagern am Feuer und nutzen die großzügig ausgestattete Küche. Ein Faltblatt vom Gottesdienst am 19.09.2004, mit dem Kirche und Wohnkomplex wieder in Dienst genommen wurden, liegt auf der Orgelempore noch aus. Es ist zweisprachig. Am Abend probt Jochen auf der Orgel der Nikolaikirche von Seligstadt. Draußen am vielfach verlassenen Ort klingt das wie eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft und wie ein Versprechen für jetzt. Die Hauswartsleute haben Milch angeboten und lassen sie sich partout nicht bezahlen.

Als wir von Seligstadt in unser Dorf zurückkommen und vor dem Haus darauf warten, dass es aufgeschlossen wird, kreuzt ein Auto mit italienischem Kennzeichen auf. Der Mitfahrer gibt sich als alter Frankfurter/M. zu erkennen. Mit einem Spruch aus den siebziger Jahren DDR kommentiert er, ohne auszusteigen, bei heruntergedrehtem Fenster die Situation: „Hier geht es wohl nach dem Motto: Der Letzte macht das Licht aus.“ Als er hört: „Hier brennen viele Lichter und wir sind gerade dabei, noch eines dazuzustellen“, ist er über so viel Widerspruch entgeistert und befiehlt seinem Fahrer abzudrehen. Wenn er möchte, kann er in Sibiu/Hermannstadt Ostern feiern. Er ist wieder einmal so weit – diesmal orthodox.

Transsilvanien kann viel Auferstehung brauchen.

Jens Langer, mailto: jens.holger.langer[at]gmx.net