Aufruhr #Colectiv: Schon wieder Revolution?

Seit einigen Jahren sind sich die Bürger*innen Rumäniens zunehmend ihrer Stärke bewusst. Jährlich kommt es zu intensiven Massenbewegungen: 2012 wegen der Bedingungen im Gesundheitswesen, 2013 für die Rettung von Roșia Montană, 2014 für den bürgerlichen Präsidentschaftskandidaten Klaus Iohannis.

Jetzt, im Herbst 2015, kam es wieder zu massiven Protesten. Der schreckliche Brand im bekannten Bukarester Club Colectiv forderte über 56 Todesopfer unter den Besucher*innen eines Metal-Konzerts, viele der zumeist jungen Menschen erlitten neben Verbrennungen schwerste Atemwegsverletzungen aufgrund hochgiftiger Materialien in der Schallschutzdecke des Clubs.. Das Unglück hätte nicht so geschehen müssen; die Betriebsgenehmigung des Clubs war aufgrund mafiöser Strukturen illegal erteilt worden. Nach dem Brand lobten Politiker*innen ohne Kenntnis der Realität angebliche Behandlungsmöglichkeiten wie einer kürzlich eröffneten Klinik für Verbrennungsopfer, die nie funktioniert hatte, und verzögerten mögliche Transporte von Verletzten ins Ausland. Die Staatstrauer bot den ersten Anlass für einen Trauermarsch durch die Hauptstadt Bukarest und in den Folgetagen wuchs die Menge der Protestierenden rasch auf mehrere Zehntausend an. Premier Ponta verkündete daraufhin seinen Rücktritt sowie den der gesamten Regierung.

Was auf den ersten Blick überraschend wirkte, war wohlkalkuliert. Ponta hatte sich bisher unbeirrt gehalten: trotz nachgewiesener Plagiate in seiner Habilitation, trotz verlorener Präsidentschaftskandidatur, ungeachtet der gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren der Antikorruptionsbehörde und des bereits eingebüssten Parteivorsitzes. Doch nach der Brandkatastrophe, so der Journalist Mihai Goţiu, verlor die sozialdemokratische PSD in kürzester Zeit 10 Prozentpunkte in den laufenden Umfragen. Das hatte es seit 1990 nicht gegeben: Zeit für Ponta zu gehen.

Am Folgetag allerdings waren dann mit 35.000 Menschen in Bukarest und noch einmal sovielen in den grossen Städten die grössten Proteste zu verzeichnen. Das Unglück führte drastisch vor Augen, dass die Korruption letztlich lebensbedrohlich ist. Die Absage der Strasse an sämtliche Vertreter*innen der aktuellen politischen Kaste war diesmal eindeutig und nicht zu überhören. „Korruption tötet!“, „Ihr kauft uns nicht mit Rücktritten!“ und die Zusammenfassung der parlamentarischen Parteien als „aceeași mizerie”, derselbe Mist, gehörten zu den Slogans ebenso wie mahnende Worte in Richtung des als zögerlich wahrgenommenen Präsidenten. Dieser lud daraufhin kurzfristig Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zu den Beratungen zur Bildung einer neuen Regierung ein. Das war ein Novum in der rumänischen Geschichte und sorgte dennoch für berechtigten Widerspruch seitens der Demonstrant*innen, die reklamierten, dass die Strasse keine Führer habe.

Einige Initiativen, Vereine und Think Tanks aus verschiedenen Bereichen nahmen das Gespräch wahr und berichteten auch öffentlich über dessen Verlauf. Der Präsident, auch das bisher ungeschehen, begab sich wenige Tage später selbst auf die Strasse, um zumindest medientauglich mit den Protestierenden zu diskutieren. Seine Linie, eine Expertenregierung sei Neuwahlen vorzuziehen, behielt Iohannis bei und ernannte den früheren EU-Agrarkommissars Dacian Cioloş zum neuen Premier. Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt seien für neugegründete Parteien zu früh, so ein nachvollziehbares Argument. Eine Expertenregierung hingegen müsse sich keinem Wahlvolk verpflichtet fühlen, lautete ein anderes. Die Zahl der Demonstrant*innen ging augenblicklich zurück.

Fest im Sattel wähnen sich weiter die im Parlament vertretenen Parteien – nationalliberale PNL, Sozialdemokraten, Ungarnverband und obskure Cliquen wie die „Fortschrittsunion“ UNPR. Noch während die bis zur Einsetzung des Kabinetts Cioloş amtierende Übergangsregierung die Geschäfte führte, winkten 310 von 318 Abgeordneten ein Gesetz durch, dass vordergründig die Einkommensmisere im Gesundheitswesen beseitigen sollte, in einem Anhang jedoch eine sofortige Gehaltserhöhung für alle Beamten um 10% festlegte. Angeblich hätten die Abgeordneten jene Ergänzung übersehen, meinte ein Parteienvertreter. Ebenso übten die Parlamentarier Druck auf den designierten Premier aus, bis einige der Forderungen „der Strasse“ aus dem Regierungsprogramm gestrichen wurden. Dazu gehört auch jene nach unabhängigen Listenverbindungen für Lokalwahlen, die den Parteien deutlich Stimmenanteile abnehmen würden. Am 17. November stimmten die Abgeordneten mehrheitlich für die neue Regierung, die nun eine von Gnaden der Altparteien und einiger Geheimdienstleute ist.

Es wurde protestiert, eine Regierung trat zurück. Die Bewegung hat eine hohe Sensibilität dafür bezeugt, sich nicht im Politzirkus verwursten zu lassen. Deutlich ist aber auch das Dilemma einer Bewegung, die einerseits neue Gesichter, demokratische Strukturen und verantwortungsvolles Staatshandeln einfordert, andererseits sich nicht auf eine Mitwirkung einlassen kann und mag. So ist die kritische Masse deutlich erstarkt, hat aber – von Iohannis abgesehen – keine Partner auf der politischen Seite. Es dürfte angesichts der katastrophalen Erfahrungen einer ganzen Generation mit dem rumänischen Politkapitalismus kaum zu erwarten sein, dass sich an dieser bürgerlichen Variante verzweifelter Systemablehnung in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Nach der Bestätigung der Regierung fragte ein Aktivist enttäuscht: „Revoluție, revoluție și nici o evoluție? Revolution, Revolution und keinerlei Evolution?“

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