Mitte Februar fuhr ich von Kärnten durch Slowenien, Kroatien und die Vojvodina im Zug nach Belgrad – mit Bozas Einladung, dem Visa und allerlei dingend empfohlenen wie überflüssigen Halbdokumenten im Gepäck. Mein zweites Visum überhaupt; im November 1989 einmal Stunden schlangestehen, um mir von spätpreussischen Beamten ein „Visum zur Ausreise in die BRD“ in den Personalausweis stempeln zu lassen. Februar 2001: Visum, die zweite.
HIN
Zwischen Ljubljana und Zagreb legt sich der Zug von einer Kurve in die nächste, selbst an einigen Bahnhöfen bleibt er leicht geneigt stehen. Das mir unbekannte Tal ist eine Strasse, einen mit Plastikfetzen beränderten Fluss und die zwei Schienenstränge nur breit. Zwei schwarze Enten fliegen neben meinem Fenster, stets auf meiner Höhe.
Als der Zug Zagreb verlässt, wird es dunkel und ein Kriegsveteran setzt sich zu mir ins Abteil. So gut es geht, bemühen wir unsere Bruchstücke aller möglichen Sprachen. Er war 54 Monate im Krieg und vorher Lokführer; die Schulter, die Beine, die Lunge durch- und angeschossen ist er mit nicht fünfzig Jahren invalid. An allen Stationen klopfen frühere Kollegen ans Fenster und er prostet ihnen mit immer wieder frischem Bier zu. Bis nach Sid, dem Grenzübergang zu Serbien, erzählt er mir, würde der Zug noch gut 150 Kilometer in der Stunde fahren, danach jedoch sei Schleichen angesagt. Im Scheinwerferlicht der mir namenlos bleibenden Orte ziehen Ruinen an uns vorbei.
Kurz vor der Grenze verlässt er den Zug und ausser mir sitzen nur noch in wenigen Abteilen Reisende. Und als die kroatischen Beamten dann ebenfalls aussteigen und wir durchs tote Niemandsland fahren, werden die Minuten endlos und die Stille beängstigt mich. Ich denke an Bojan, wie er im Sommer verhaftet wurde und alle serbischen Staatsdiener werden zu brutalen Bütteln. Der Zug bleibt in Sid stehen. Ein serbischer Grenzer verlangt meinen Pass, doch all die anderen Papiere und Papierchen, die ich auf Raten des Hamburger Konsulats unbedingt dabei haben müsste, will er nicht sehen. Er nicht, und später auch niemand. „Wieviel Geld haben Sie dabei?“ – „So etwa 250DM.“ – Und, fast fauchend: „Super!“ Als er später am Fenster vorbeikommt, versuche ich betont, wegzuschauen. Plötzlich blitzt er mich mit seiner Lampe an, ich drehe mich um und er grinst breit über den gelungenen Spass. Nach einigen, mehr oder weniger leichtherzig abgebrochenen Anläufen bin ich in Serbien.
Mit der gleichen Geschwindigkeit wie in den Ländern zuvor geht es weiter. Bei einigen Flaschen Bier stosse ich mit heimlichen Flüchen auf den Kroaten an. Pünktlich, eine gute Stunde vor Mitternacht, bleibt der Zug in Belgrad stehen. Endstation.
UND
Durch eine kleine Halle gehe ich nach vorne auf den Vorplatz. Milena und Srdjan sind nicht da und ich vertreibe die Zeit: „Nein danke, ich brauche kein Hotel. Nein, kein Taxi. Ich möchte nicht telephonieren. Danke, ich habe genug Zigaretten.“ Wenigstens sprechen mich alle auf serbisch an, ich bin ja so bedacht, nicht als Ausländer aufzufallen. Nach fast einer halben Stunde klopft mir Milena auf den Rücken – ich bin am Haupteingang vorbeigegangen. Als sie mich nicht finden kann, fragt sie einen Polizisten, sie wolle einen Freund abholen. Der wird sich wohl schon anders entschieden haben, ist die Antwort. „Nein, ein ganz normaler Freund.“ – „Ausländer?“ – „Ja.“ – „Mit Lederjacke und Ohrring?“ – „Ja.“ – „Der steht am vorderen Eingang.“ Bingo.
Zum Willkommenstrunk fahren wir, am zerbombten alten Oberkommando vorbei, in eine der vielen neuen Kneipen. Zwischen grossformatigen Photos von Dindic und etlichen Supermodels macht sich die neue Zeit breit. Nike wirbt in der ganzen Stadt: „New Arrival.“ Gute Nacht.
Milena zeigt mir die Stadt. Wir laufen zu ihrer alten Grundschule, zum Kalemegdan, schauen über die Sava zu dem Betonskelett, dass einmal die Zentrale der SPS war. Mir rutscht heraus, dass es mir um das Gebäude wirklich nicht leid sei. Vor der österreichischen Botschaft warten Dutzende darauf, mit ihrem Gesuch um ein Visum vorgelassen zu werden. Nebenan thront das Gebäude der Vertretung Frankreichs. Wir gehen zur Philosophischen Fakultät, ins Café „Plato“, ins Dom Omladine und aus Geschichten werden für mich langsam reale Orte.
Überall prangt die Faust von “ OTPOR!“, doch die erste Ankündigung einer Veranstaltung zu der Bewegung lautet „Otpor Otporu! – Widerstand gegen OTPOR!“ Sie haben seit dem 5. Oktober viel Einfluss und zunehmend macht sich Unmut über die einst linke Studentengruppe breit.
Konzert im Sava Center, einem plattgehauenen Ostberliner Palast der Republik gleich. „Balkan 2000“ heisst das Programm, zu dem der Musiker Sanja Ilic ein Grossaufgebot an Philharmonikern, Sängern und Musikern arrangiert hat. Mehrere tausend Menschen lauschen der hygienisch reinen, technisch einwandfreien, in diesem Ambiente gefühlsfrei bleibenden Interpretation traditioneller Melodien, Lieder und Tänze. Balkan 2000, die Musik ist angesichts der Wirklichkeit des Landes womöglich das Einzige, woraus sich noch gutes Geld machen lässt.
Mikica blinzelt so nervös wie immer. Unmittelbar nachdem Milosevic gestürzt war, kehrte er Budapest den Rücken und nach Lazarevac, einer Bergwerksstadt südlich von Belgrad, zurück. Als der Kosovokrieg noch in Gange war, entzog er sich der drohenden Einberufung durch die Flucht über die Drina und Sarajevo nach Ungarn. Das erhoffte Asyl blieb aus, die Schwester Belgrads wurde nicht zur Heimat. Im Oktober noch schrieb er an andere Deserteure nach Ungarn, ihm nicht zu folgen. Jetzt ist die Amnestie schon beschlossen, ein ziviler Ersatzdienst nicht mehr fern. Mikica arbeitet – schwarz, wie es eben üblich ist. Nebenbei wirkt er an der Inszenierung eines Stückes über die Auswanderung der Monenegriner nach Amerika mit. Es gibt viel zu tun, wenig Geld zwar, aber doch genug. Als noch einige seiner Freunde zu uns stossen, überhäufen sie mich mit Fragen. Ist die EU okay? Das neue Buch von Noam Chomsky? Sind Homoehen in Ordnung? Ob ich auch einer von den neuen Scouts sei?
Ich kann kaum gegenhalten; jedenfalls wurde Mikica nur als „schlechter Patriot“ beschimpft, in Zeiten wie diesen ist anderes wichtiger. Die Mutter eines Freundes wurde wegen Mietschulden aus ihrer Wohnung geworfen. Nach der „Revolution“.
Branka erwartet offensichtlich mehrere Dutzend Gäste, in der Küche ist kaum noch Platz zwischen all den verschiedenen Gerichten. Zu Tisch gehen wir nach einem Schluck Selbstgebrannten und die Geschichten gehen hin und her. Zoca und Beca, Brankas Töchter, habe ich vor zwei Jahren erstmals getroffen. Damals waren sie vor den Bombardements nach Budapest geflüchtet; die halbe Stadt schien Serbokroatisch zu sprechen. Zoca schrieb mir kurz vor diesem Besuch, dass Serbien nun wohl ein ganz gewöhnliches Land werden würde; sie wolle sich deshalb auf Tierschutz verlegen. Das nehme ich ihr fast übel und sie muss einige bissige Schmähs über sich ergehen lassen, während wir schlemmen. Es bleibt genug Salat für sie übrig.
Zwischendurch klingelt das Telefon. Ein Kollege teilt Branka mit, dass im Presevo-Tal drei Polizisten von Kämpfern der UÇPMB erschossen worden seien. Die Emotionen gehen hoch, vor zwei Tagen erst ist ein vollbesetzter Bus im Kosovo gesprengt worden.
Milena und Sandra erwarten mich am Trg Republike. Milena hofft, von ihrer Freundin bei einem Projekt für ihr Soziologiestudium unterstützt zu werden. Sandra arbeitet für die „AZIN – Vereinigung der Fraueninitiativen“ und beschäftigt sich konzentriert mit sex-trafficking, dem organisierten Handel von Frauen. Als sie meint, das im Kosovo, Serbien und Montenegro jährlich bis zu 500.000 Frauen regelrecht verschoben würden, schauen Milena und ich uns nur schweigend an. Doch Sandra erzählt von der in Westeuropa eher sekundären Seite dieses Dramas, von den Frauen selbst, ihrer miserablen Situation in Moldawien, Rumänien, Russland und den anderen osteuropäischen Ländern, die sie zu leichten Opfern werden lassen. Sandra ist oft im Kosovo, wo AZIN in einem Dorf Frauen aus den verschiedenen Ethnien betreut, die zur Prostitution gezwungen oder von ihren Männern misshandelt wurden. „Ein Kilogramm Haschisch lässt sich nur ein einziges Mal verkaufen. Eine Frau drei bis fünf Mal.“
Srdjan und ich warten auf den Bus ins Zentrum. Ich frage ihn, was das für ein nobles Restaurant hinter uns sei. „Restaurant? Hier werden gestohlene Wagen mit den Baunummern von Unfallautos versehen, also praktisch legalisiert. Hauptsächlich grosse Limousinen und Jeeps.“ Dann zeigt er mir noch ein kleines Schild, das über dem Eingang des vermeintlichen Edelschuppens klebt: „Center for Peace and Tolerance“. An der Kreuzung ein Graffito: „Welcome to Kumodraz, serbian Columbia.“
Die Sonne scheint über Avala. Bis vor zwei Jahren ragte hier der Fernsehturm Belgrads auf, bis er zerbombt wurde. Alle Fenster und Türen des Gartenhauses zerbarsten, als die nächste Bombe keine hundert Meter entfernt ein Loch in den Boden riss. Der Nachbar ist ein wenig verrückt geworden, erzählt Srdjan, während der gesamten Periode des Bombardements sei er hier oben gewesen. Der Alte glaubt fest an neue Luftattacken und lädt uns zu Kaffe und Rakija ein. Später graben wir die Erde um den Obstbäumen um und die Sonne schickt sich an, es Frühling werden zu lassen. Der Garten scheint mir wie ein Überbleibsel aus besseren Zeiten, das Haus war und ist der Traum Bozas, von dem hinab wir bis nach Sumadija blicken können, dem Land von Slivovica und Wein.
Ich muss mich auf der Polizeiwache abmelden. Das geht ebenso schnell wie vor einigen Tagen die Ausstellung des Papiers über meinen „vorläufigen Wohnsitz“. Ich bin felsenfest davon überzeugt, genau das gleiche Formular vor wenigen Monaten in Mostar ausgefüllt zu haben. Als ich mich umdrehe, blicke ich auf eine Tafel mit Traueranzeigen für gestorbene Polizisten. Drei Männer starben am Sonntag, einer blieb 25 Jahre jung. Presevo.
Als ich frühmorgens in den Bus steige, winkt mir eine Gruppe Freunde hinterher. Zwischen meinen Knien klemmen Saft, Schnaps und ein T-Shirt mit den Worten „Beograd – BGD – Belgrade“.
HER
Die weite Vojvodina zieht an mir vorbei, die Felder sind riesig, kaum ein Baum oder Strauch. In einigen Orten tauchen auf zweisprachigen Schildern die ersten ungarischen Worte auf.
Nachmittags falle ich nach sieben schweigsamen Stunden halbsteif in Budapest aus dem Bus. Ich stehe inmitten hektischen Treibens; im U-Bahn-Tunnel sehe ich sie wieder: Obdachlose, dicht aneinander. Mir dämmert, dass ich in Belgrad kaum einen sah. Einige Bettler, sicherlich, aber hier in Budapest muss ich mit geschlossenen Augen gehen, um keinen zu sehen.
Nachts ziehe ich mit Moske ein letzte Mal los, wir schütten uns Abschied die Kehle hinab. Ich will nicht bis zur grossen Farewell-Party warten, mein Freund geht sowieso. Womöglich ist er jetzt eher Privatmann als Deserteur, seine Frau wartet mit einem US-Pass in San Francisco auf ihn. Wir trinken bis zum frühen Morgen und mir ist als verabschiede ich mich von einem nach dem anderen Deserteur, den ich in dieser Nacht treffe. Janos, der jüngste von ihnen, ist der einzige, der zurückgehen will. Denis hat geheiratet, Sinisa bekommt hoffentlich bald einen legalen Job, Snezana und Branko versuchen es noch einmal mit Australien. Für 3.000 DM pro Familienmitglied, hat man ihnen gesagt, wäre ein Visum kein Problem.
Antworten
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.