Einfach, aber kompliziert und konfliktuell: Chancen in Transsilvanien

„Was wollt ihr hier“, verwundert sich der Mann vom Film, „hier gibt es ja nicht mal eine Bar.“ Seit über 20 Jahren tourt er sommers durch Rumänien und Siebenbürgen, ent-lang dem Transeuropäischen Korridor der atemberaubenden Verkehrsströme zwischen Skandinavien und Türkei. Zum ersten Mal landet er nun abseits von den Magistralen in einem siebenbürgischen Dorf bei Sibiu/Hermannstadt, trifft auf die Bekannten von Bekannten und wundert sich. Die Antwort der anderen: „Wir wollen hier leben.“
Die einst 240.000 Siebenbürger Sachsen sind durch Krieg und Verstrickung in der deutschen Deportation und durch ideologische Verfolgung dezimiert.
Von den 601 deutschen evangelischen Einwohnern (1939) gibt es 2004 in unserem Dorf noch 4, zwischen 75 und 80, in den Vierzigern und Fünfzigern, zwei mit orthodoxen Rumäninnen aus Roma-Familien verheiratet. Eine junge Familie aus Deutschland ist zugezogen. An Christfest 2003 wird ihr Kind getauft. Im anscheinend für immer geschlossenen Taufregister wird eine neue Seite aufgeschlagen und beschrieben.

„Keine Rede von Holocaust und von unserer Mit-Verwicklung in den Nationalsozialismus. Man sang noch in den achtziger Jahren die alten Soldatenlieder des Zweiten Weltkriegs, so als hätte man diesen gewonnen“, urteilt Paul Philippi, Theologieprofessor in Hermannstadt, über die politischen und kulturellen Muster, die die aus Deutschland zum Heimatbesuch kommenden Siebenbürger den Daheimgebliebenen vermittelten. „Sie brauchen die vertrauten Defizite und Defekte in der Heimat als Bestätigung für ihre Ausreise. Darum lehnen sie neue Entwicklungen und Transformationen ab“, ergänzt für die Gegenwart ein Neuankömmling. Das ist aus dem TV-Film von Antonia Schmidt „Hoffnungsmacher. Aufbruchstimmung in Hermannstadt“ (2004) zu erfahren.

Aus dem kirchlichen Betreuungspunkt Hosman/ Holzmengen/ Holcmány mit seinen 4-7 Mitgliedern wird eine lebendige Gemeinde auf schmaler Basis. Als vor Ostern 2005 5 Ungarinnen und Ungarn unter Segen, Wort und Sakrament in die Gemeinde aufgenommen werden, wird die Zahl erstmalig wieder zweistellig.
Es ist klar, mit rein deutsch ist rein gar nichts, aber mit evangelisch schon eine ganze Hoffnung, die sich verstärkt, als sich im Sommer 2005 einige mehr auf die Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien (14.460 Mitglieder) einlassen.

„Nu plecaţi!“ („Geht nicht weg!“) wurde dem heutigen Bischofsvikar Hans Klein, Theologieprofessor und Stadtrat in Sibiu/Hermannstadt im Dezember 1990 von 5000 Demonstranten zugerufen, als er im Gedenken an den Putsch vor Jahresfrist zu ihnen vom Balkon des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) sprach. Sie knieten nieder zum Gebet mit ihm. Was für Möglichkeiten und was für Versuchungen! Klein interpretiert in seinen „Dokumenten einer Hoffnung“ (2004) auch die Wiederwahl des siebenbürgischen Oberbürgermeisters von Sibiu im Sommer 2004 – 88,6 % der Wählerstimmen für den Vertreter einer Stadtminderheit von 1,6 %: Wir haben in der Vergangenheit über lange Jahre viele Freunde und Verwandte verloren, in der Wahlnacht haben wir sehr viele Schwestern, Brüder und Freunde erhalten. Wie pragmatisch lässt sich auf die Herausforderungen für die Kirche reagieren? „Mit 10 % der Gemeindeglieder von 1970 muss sie (scl. die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien) die Tradition erhalten und weiterbauen, muss etwa 200 Kirchengebäude, viele Kirchenburgen erhalten und sich um die vielen Einsamen kümmern“, bilanziert Klein nüchtern.
Bereits 2000 hat er für den Weg ins Jahr 2005 festgestellt: „Es wird uns nicht erspart bleiben, in den nächsten 10 Jahren in harten Diskussionen den Weg unserer Kirche neu zu definieren.“ Ebenso ernüchternd seine Beobachtung zur Milleniumswende: „Prognosen offen / Berechnungen unstimmig / Botschaften unsicher / Mittelpunkt fehlt.“
Die Erfahrung der Sieben aus Hosman/Holzmengen bestätigt Notwendigkeit und sogar Chancen einer identitätsbewährenden Transformation vom Zentrum des Evangeliums aus in die zentralen Fragestellungen hinein und ebenso partiell die Ferne vom Zentrum, Geistvergessenheit und Unzuständigkeit.
Die Sieben aus Holzmengen erleben, wie Sprachlosigkeit und Ausgrenzung die Freude an den Dank für die Gemeinschaft am Evangelium anfechten. Als der Ortspastor aus disziplinarrechtlichen Gründen, die noch in seiner alten Heimatkirche Hannover liegen, amtsenthoben wird, beginnt ein zähes Agieren gegen die Neuaufgenommenen. Sind sie überhaupt alle Christen? War ihre Aufnahme kirchenrechtlich in Ordnung? Ausgereiste Sachsen, die zum Urlaub kommen, wollen den Gottesdienst boykottieren, wenn Ungarinnen und Ungarn daran teilnehmen. „Auswanderung verletzt die Geborgenheit. Zuwanderung auch,“ schreibt die Redakteurin der Hermannstädter „Kirchlichen Blätter“ im Mai 2006. Das Landeskonsistorium setzt den zuständigen Mitarbeitern eine Frist zur Klärung. Aber die kommen nie zu einer Klärung, ob sie die neuen Schwestern und Brüder wollen.
Ein reformierter Pfarrer übernimmt schließlich für eine Gymnasiastin am Schulort die Unterrichtung im lutherischen Katechismus für die Konfirmation. Die Hoffnungsleute bereiten eine alte Scheune auf dem Mühlengehöft für die Konfirmation vor. Palmarum 2006, am Todestag Dietrich Bonhoeffers, feiern Menschen aus dem Dorf und von weither das Heilige Abendmahl über kulturelle und nationale Grenzen hinweg als Fest der Ermutigung für Mutlose. Pfarrer und Kantor der Evangelisch-Lutherischen Kirche (32.500 Mitglieder) ermöglichen das. Alle Sieben treten dieser Kirche bei und hoffen auf die Einheit der beiden Lutherblöcke, die es bis ins 19. Jahrhundert hinein schon einmal gab. Sie erklären der Kirche, die sie nicht haben wollten, ihren Schritt, ihren Schmerz, ihre Traurigkeit.
Nachdem alle Fristen verstrichen sind, reagieren Bischof und Hauptanwalt. Sie entschuldigen sich für Verhalten und Nichtverhalten der zuständigen Mitarbeiterschaft. Der Brief kommt nach Verzweiflung und Zorn der Verdrängten zu spät. Als Ausdruck von Kommunikation aber wird er als ein erstes freundliches Entgegenkommen emp-funden.
Die Zeichen der Zeit stehen schon lange auf Veränderung, sei es eine prekäre Perspektive oder eine Transformation, die Identität bewährt. Und dort werden sie noch lange stehen bleiben.

Jens Langer
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