Viorel aus einem Dorf in Siebenbürgen stirbt. Es ist das Sterben eines Mannes, eines Zigeuners. Kein Rom, denn das wollte er nicht sein. Rom ist genauso unscharf wie Zigeuner, letzteres aber eine Schublade, in die auch Viorel gesteckt wurde – zeit seines Lebens. Das Stigma der untersten sozialen Kaste tragend: in Würde sterben. Danke, Viorel!
Ein wenig mehr als zweiundsechzig Lebensjahre waren Viorel zugeteilt worden. Mehr als zwanzig davon plagte ihn der Krebs, der zuerst seine Hoden befiel, von dort zum Magen wanderte, um sich dann im ganzen Körper des Mannes breitzumachen. Zwei Monate dauerten jene vier Tage, die ihm die Ärzte in der Stadt noch gaben als sie eine weitere Operation ablehnten. Seit dem Frühling musste das, was Viorel verdauen konnte, von Tag zu Tag erst breiiger, dann flüssiger werden, bis er schliesslich nur noch Tee zu sich nehmen konnte. In den letzten zehn Tagen seines Lebens fand das Wasser nur löffelweise den Weg über seine Lippen, die ihm seine Frau vorsichtig öffnete. Zwei Tage vor seinem Tod war er nicht mehr recht bei Bewusstsein.
Als die Nacht begann, in der er sterben sollte, hatten die Frauen bereits ihre Klagelieder angestimmt, so leicht und kaum wahrnehmbar ging sein Atmen. In der Morgendämmerung – die Sonne war noch nicht über den Horizont gestiegen – segnete ihn der Schwiegersohn im Kreis der Familie. Als das geschehen war, kehrte jene eine Stille ins Haus, die einen Menschen gut sterben lässt. Viorels Herz, das dem verfallenden Körper so lange widerstanden hatte, hörte auf zu schlagen. Jetzt, jetzt war er tot.
Bevor die Hirten die Nachricht durchs Dorf tragen konnten, fuhr der Schwiegersohn in die Stadt. Er kaufte einen Fichtensarg und ein Kreuz, auf das der Name des Gestorbenen geschrieben wurde, und bestellte drei Kränze. Ins Dorf zurückgekehrt, bahrte er zusammen mit seinem Schwager den inzwischen mit seinem Letzten bekleideten Viorel in der Stube auf. Danach gingen die Männer und liessen die Frauen mit dem Toten allein. Durch die geschlossenen Fenster drang ihr Weinen. Unterbrochen von Momenten der Ruhe hoben sie erneut an zu klagen. Wer am Haus vorbeiging, wurde langsamer und verstand. Viorel war tot.
Als der Tag, an welchem Viorel gestorben war, sich neigte, wurde das Hoftor geöffnet. Die den Toten kannten, kamen. Je später der Abend wurde, um so mehr füllte sich die Stube, in der Viorel lag. Kerzen brannten neben ihm; das Zimmer mit dem Sarg in der Mitte war voll. Ach Viorel, was haben wir als Kinder für Streiche gespielt – weisst du noch? Wie arm ist es jetzt, da du gegangen bist! Was wird aus uns werden, du? Der Herr soll dir deine Sünden vergeben, ich aber weine um dich!
Draussen, unter dem Vordach im Hof, sassen die Gäste beisammen. Ein Schnaps mit gebranntem Zucker, ein Kartenspiel. Vom Weinen noch zitternde Finger drückten halbe Zigaretten aus. Immer wieder stand jemand auf und ging in das Zimmer mit dem Toten, blieb dort eine Zeit lang neben ihm sitzen. Kehrte wieder nach draussen, um müde ins Nichts zu schauen. Nie war der Tote allein. Irgendwann begannen die Kinder den Trauernden kleine Streiche zu spielen. Aus dem folgenden Fluchen wurde ein Lachen, aus dem Lachen entspannen sich Gespräche bis weit in den folgenden Morgen hinein. Viorel war tot.
verfasst am 13.07.2002
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