…als ich jung war. Nachruf auf einen Unbekannten

Als Bukarest vor nun fast drei Jahren sein Volk zählen ließ, begab es sich, daß die Gesandten ein Dorf für tot erklärten. Nicht nur eines – eines aber lebte sicher noch zu jener Zeit. Es lebte und war doch schon gestorben.

Engenthal – rumänisch Mighindoala, ungarisch Ingodály – liegt versteckt zwischen Bell und Petersdorf nördlich des Kaltbachtales. Der Bericht über ein aufgegebenes Dorf in der Nähe weckte Abenteuerlust, Erzählungen von sächsischen Schäfern ließen aufhorchen. Im Frühjahr wanderten wir dort hinauf. In Bell glaubte man seinen Ohren nicht zu hören, als wir nach dem Weg fragten…

Wir fanden keine leeren Gassen, keine Häuser, aus denen gestern die letzten Bewohner ausgezogen wären. Engenthal war schon lange vor uns gegangen. Ein Hund schlug an, als wir ins Dorf hinabstiegen. Was wir aus einiger Entfernung sahen, erinnerte noch vage an das, was wir uns gemeinhin unter Dorf vorstellten. Doch dann sahen wir die Bäume, die aus einer Kirchenruine ragten, vereinzelte Hauswände inmitten prallen Grüns. Die kleine evangelische Kirche, noch 1914 gebaut, stand offen und schien uns einzuladen. Die Reste eines Schulgebäudes, der orthodoxe Friedhof am Hang – dort wo wir auf den verbliebenen Stufen eines verschwundenen Hauses saßen. Noch zwei, vielleicht drei Häuser schienen uns bewohnt. Die erwartete Morbidität sahen wir nicht; wir fühlten uns wie im Vorhof zum Paradies: eine Stille, wie sie selbst in Siebenbürgen kaum noch zu finden ist. Ein Klang, der nur selten sich noch Gehör verschaffen kann. Vögel, Schlangen, vielerlei Getier, das Aneinanderreiben der jungen Blätter im April.

Neben der Kirchenruine, dort wo der Hund bellte, stand ein Mann. Etwas wirr er, verängstigt wir. „Copii, de unde veniţi?!“ – seine Stimme überschlug sich bisweilen. Drei Frauen hätte er gehabt. Getanzt, verliebt ins lange Haar der Sächsinnen, hätte er an der Kirchenlinde mit ihnen getanzt. „Hunderfünfzig Häuser standen noch, als ich jung war…“

Im Juni noch einmal hinauf, hinab. Das Schöne, das Zeichenhafte Engenthals in der Reihe des Dörferlegens. Schon den Tod hinter sich gelassen, kann dieser Ort doch Wanderern aus seinen letzten vom Mensch gesetzten Mauern berichten. Die Kirche, ein Ort des Betens und der Unterkunft – das war die Idee des Sommers. In Bell wartete die Pfarrerin, sie wollte nach einem weiteren Bewohner suchen. Einer, der Engenthal nie verlassen würde, der dem Sterben seiner Wiege hinterhergeht..

Engenthal – kein Mensch lebt dort? Der alte Mann, der Trinker. Zwei ungarische Bauern, eine Frau… Ein Dorf am Rande, ohne Belang für Zahlen und Zählende. Nichts zählt mehr: die Bewohner, die unruhige Geschichte, seine Kirchen.

Der Alte war erfreut. Bestens informiert aus dem Radio über den Lauf der Dinge hinter dem Berg. „Meine Tochter soll mich hier beerdigen.“ Im späteren Lauf des Sommers schickten wir noch einige junge Photographen zu ihm, nach Engenthal. Die Kuh hatte ihm das Gesicht zertreten. Stolz erhobenen Kopfes ließ er sich porträtieren. „Man nahm uns die beste Erde. Warum soll ich heute noch gehen?“ Er war froh über jeden Besuch, jedes Wort.

Der Herbst kam. Wir wollten die Geschichte des letzten Engenthalers aufnehmen, der dort geboren, noch hier lebte. Eine der vielen letzten Geschichten, die der bittere Geschmack unseres Landstriches sind. Der Septemberregen verhinderte die Fahrt, dann andere Dinge von vermeintlichem Vorrang. Im November dann – endlich – Aufbruch nach Engenthal. Aufgeweichte Wege, die Technik nicht vertraut: eine Erzählung, eine unbedeutende Biographie festhalten. Zeugnis.

Am ausgewaschenen Weg von Bell hinauf Richtung Engenthal trafen wir einen der Ungarn. Er erkannte uns, auch wußte er sofort um den Anlaß unseres Besuches. „Er ist tot, gestorben vor drei Wochen…“ Den Heimweg vom Markt in Bell schaffte er nicht mehr. Irgendwo zwischen den beiden Dörfern ging er nieder, gab sein Herz auf. Sie fanden ihn am nächsten Tag.

Nicht einmal seinen Namen haben wir erfahren. Seine Geschichte ist wohl mit ihm gegangen. Seinen Leichnam hat man anderswo zur Ruhe gebettet. Möge er sie dort finden, wo auch immer: wir haben es nicht erfahren. In Engenthal durfte er seinen letzten Frieden nicht finden. Das tote Dorf hat einen Sohn verloren, der nächste Sommer aber wird Engenthal wieder näher zum Paradies rücken. Er wird dabei sein, uns namenlos beeindrucken. Das zählt.

Joachim F. Cotaru: Geb./ nasc. 1974 in DE *** Journalist, Historiker + Politikwissenschaftler/ jurnalist, istoric + politolog *** Trainer für Erwachsenenbildung/ formator *** DE, RO, EN, FR, SV
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